Datum: 21.02.2024
Stelldichein der Beutegreifer
Im Rahmen eines Forschungsprojekts im Nationalpark Harz sind zahlreiche Aufnahmen von fleischfressenden Wildtieren entstanden
Seit dem Frühjahr 2023 beteiligt sich der Nationalpark Harz an einem Forschungsprojekt zur Bedeutung von Aas in mitteleuropäischen Ökosystemen. Dabei wird unter anderem mittels Fotofallen beobachtet, welchen Tieren ein Kadaver als Nahrung dient. Untersucht wird der Beitrag toter Tiere für die biologische Vielfalt und für natürliche Prozessabläufe. Viele verschiedene Arten – von Bakterien und Pilzen über Fliegen und Aaskäfer bis zu Mardern, Raben oder imposanten Greifvögeln – haben sich im Laufe der Evolution darauf eingestellt, Kadaver in der Natur zu verwerten.
Um mehr über den ökologisch bedeutsamen „Lebensraum Aas" und das bisher noch viel zu wenig erforschte Zusammenspiel der Besucher an einem Kadaver herauszufinden, wurde das vom Bundesamt für Naturschutz finanziell geförderte und von der Universität Würzburg federführend koordinierte Projekt „Belassen von Wildtierkadavern in der Landschaft – Erprobung am Beispiel der Nationalparke" ins Leben gerufen. Mittlerweile liegt bereits eine große Zahl an Fotofallen-Aufnahmen vor, auf denen ganz verschiedene Wildtiere zu sehen sind, die einen Kadaver besuchen, sich davon ernähren oder auch nur daran riechen. Darunter sind auch einige Tiere, denen die Besucher*innen des Nationalparks in freier Natur nur selten begegnen dürften.
Im Rahmen des Projekts werden im Nationalpark Harz über einen Zeitraum von drei Jahren jährlich mindestens acht Rehe oder Rothirsche, die bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommen sind, an unterschiedlichen Standorten im Bergfichtenwald ausgelegt. Wie zu erwarten übt ein Rehkadaver besonders auf die größeren Beutegreifer, die im Schutzgebiet vorkommen, eine große Anziehungskraft aus.
Neben Rotfuchs und Luchs sind auch Wölfe auf mehreren Fotos zu sehen. Tatsächlich gelang mit diesen Aufnahmen die erste Dokumentation eines Wolfsrudels im Nationalpark, also einem Wolfspaar mit seinem Nachwuchs. Ein Foto zeigt fünf Wolfswelpen, die sich um eine der von der Nationalparkverwaltung eingerichteten wissenschaftlichen Probeflächen versammeln. Luchse sind hin und wieder an den Kadaverplätzen zu beobachten – ein frischer Hirschkadaver ist für sie offensichtlich ein verlockendes Angebot. Ein Luchs scheint besonderes Interesse an einem Temperatur-Logger zu haben: Er stellt sich auf die Hinterläufe und untersucht das Gerät.
Ein scheuer Waldbewohner ist der Baummarder, der ganz im Gegensatz zu seinem Verwandten, dem Steinmarder, lieber Abstand zu menschlichen Siedlungen hält. Wenngleich der Baummarder auf dem Foto am Boden auf Nahrungssuche unterwegs ist, steigen diese Tiere, wie ihr Name schon sagt, sehr gerne auf Bäumen. Sie können sehr gut klettern und mehrere Meter weit springen. Tagsüber verstecken sie sich in ihren Ruheplätzen, beispielsweise verlassene Greifvogelhorste oder größere Baumhöhlen, nachts gehen sie auf Jagd nach kleinen Säugetieren oder Vögeln. Auch Vogeleier, Früchte, Beeren und Nüsse gehören zu ihrem Speiseplan. Ob der Marder nur durch den Aufnahmebereich der Wildkamera läuft, angelockt vielleicht von dem Geruch, oder tatsächlich von dem Kadaver frisst, ist auf dem Bild nicht zu erkennen.
Auf einem in der Nacht entstandenen Foto ist ein Marderhund oder Enok zu sehen, ein Verwandter des Rotfuchses. Es handelt sich um einen sogenannten Neozoen, also eine vom Menschen eingeschleppte Art: Ursprünglich aus dem fernöstlichen Asien stammend, ist diese Art mittlerweile in weiten Teilen Europas verbreitet. Die Art wurde Anfang des 20. Jahrhunderts im europäischen Teil der früheren Sowjetunion ausgewildert und wanderte von dort aus weiter nach Westen. Marderhunde sind sehr scheue, nachtaktive Bewohner der Wälder. Sie sind ausgesprochene Allesfresser und ernähren sich von Mäusen, Vögeln, Eiern, Fischen, Amphibien, Schnecken und Insekten ebenso wie Eicheln, Nüssen, Beeren und Obst. Auch Aas verschmähen sie nicht – wie im Rahmen des Forschungsprojektes dokumentiert. Sie selbst gehören wiederum ins Beutespektrum der größeren Beutegreifer im Harz, wie Luchs und Wolf.
Die Aasplätze werden auch von Vögeln regelmäßig besucht, unter anderem von Kolkraben, Eichelhähern und Rotmilanen. Und als echte Allesfresser nutzen auch Wildschweine diese Gelegenheit für eine Mahlzeit. Was einen Rothirsch veranlasst hat, den Rehkadaver zu besuchen, kann nur spekuliert werden – vermutlich war es der Geruch, der ihn neugierig gemacht hat.
Zum Projekt
Das auf fünf Jahre angesetzte Projekt gliedert sich in zwei Module: Im Hauptvorhaben werden im Nationalpark Harz über einen Zeitraum von drei Jahren jährlich acht Rehkadaver an unterschiedlichen Standorten im Bergfichtenwald ausgelegt. Über die Dauer von mindestens einem Monat werden Aasbesucher mittels Wildkamera erfasst und anschließend Nutzung, Verweildauer und Besuchsfrequenzen der einzelnen Arten ermittelt.
Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung werden drei weitere Reh- und zusätzlich drei Rothirschkadaver in einem standardisierten Verfahren einmal im Sommer und einmal im Winter ausgelegt. Bei diesem deutlich aufwendigeren Ansatz kommen im Sommer nicht nur Wildkameras zum Einsatz, sondern es werden auch die auftretenden Insekten mittels Bodenfallen erfasst. Zusätzlich werden Abstriche am Aas sowie Bodenproben genommen, um mittels molekularer Methoden die Bakterien- und Pilzflora zu bestimmen. Verwendet werden dafür natürlich verendete oder bei Wildunfällen tödlich verunglückte Rehe und Rothirsche.
Erste Untersuchungen im Nationalpark Bayerischer Wald zeigten 17 Wirbeltierarten, 92 Käferarten, 97 Zweiflüglerarten, 1820 Bakterienarten und 3726 Pilzarten an der toten tierischen Biomasse. Auch im Nationalpark Harz wurden bei wenigen Aufsammlungen an Rothirschkadavern bereits 50 Käferarten festgestellt. Ein Wildtierkadaver ist somit ein wahrer Hotspot der Biodiversität. Am Ende der Untersuchung sollen Handlungsempfehlungen für den Umgang mit toten Wildtieren in Nationalparken und Naturlandschaften gegeben werden.